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Ein Beitrag von Marius Huszar

Franz Stelzhamer
Eine Entdeckung

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Der Beitrag von Marius Huszar stammt aus dem Buch "Die österreichische Literatur ist keineswegs ein bloßer Wurmfortsatz der deutschen. Ein Weißbuch" (S. 79 – 87), erschienen 2009 im Ennsthaler Verlag.


In Linz geboren,
darf ich mich einen Oberösterreicher nennen
und tat zuweilen gewaltig groß damit,
der Landsmann Stelzhamers zu sein.
(Hermann Bahr, Selbstbildnis)

Marius Huszar:
Franz Stelzhamer
Eine Entdeckung

Franz Stelzhamer! — Viel wurde über ihn geschrieben. Zumeist Gutes; manchmal auch Schlechtes. Das Gute hauptsächlich über seine in ihrer Schlichtheit genialen Mundartgedichte, das Schlechte hauptsächlich über seine in ihrer Radikalität erschreckenden politischen Schriften in Hochsprache. 
Ja. - Franz Stelzhamer hat auch Hochsprachiges geschrieben.
Das zu entdecken war für mich eine große Überraschung; aber eine angenehme, denn nicht eine jener politischen Schriften brachte mir den hochdeutschen Dichter näher, sondern die dem Novellenband »Sebastian, der Spaziergänger« entnommene Erzählung »Der wunderbare Blick«.
Es war wie ... Ja, wie war es eigentlich?! Schwer ist es, einen passenden Vergleich zu finden. — Vielleicht so: Es war wie (man möge mir die etwas kitschig anmutende Metapher verzeihen) ein schöner Sonnenaufgang; denn wie ein schöner Sonnenaufgang Hoffnung gibt auf einen schönen, ereignisreichen Tag, so ließ mich >meine< erste Stelzhamer- Erzählung auf weitere schöne Leseerlebnisse hoffen. Und das Erhoffte ist auch tatsächlich eingetreten.

Wer suchet, der findet, heißt es.
Ich war damals freier Mitarbeiter des ORF im Landesstudio Oberösterreich und immer auf der Suche nach 20-Minuten-Geschichten für das Ö1-Radioprogramm. Hermann Bahr lesend stieß ich auf ein Feuilleton, »Erinnerung« betitelt, in dem dieser 1863 im Zentrum von Linz geborene Kulturphilosoph und bekennende Oberösterreicher Stelzhamer als den größten Dichter bezeichnete, den unser Land hat. Das machte mich neugierig. Ich suchte nach Büchern von Stelzhamer und fand den dreiteiligen Prosa-Band »Mein Gedankenbuch« — »Sebastian, der Spaziergänger« — »Novellen«, ein Buch, das schon 150 Jahre alt war und auch so aussah. Ich begann mit den Sebastian-Geschichten, genauer gesagt mit der zweiten, da die erste für meine Zwecke zu lang gewesen wäre, und das war »Der wunderbare Blick«. Ich las — und hatte meinen schönen Sonnenaufgang.

Was ist es, das uns Literatur näher bringt, das uns Geschichten schmackhaft macht? Ich deutete es bereits an:
Überraschung. »Der wunderbare Blick« bereitete mir eine Reihe von Überraschungen: kleine, in Form von alten, mir aber gänzlich neuen Wortkreationen und Formulierungen, die ich von Stelzhamer nie erwartet hätte; denn was kannte ich von ihm? Das, was die meisten (Ober) Österreicher auch von ihm kennen: 's Hoamatgsang, Da blüahade Kerschbam, Übern Anger bin i ganga, und noch zwei, drei andere schlichte, stimmungsvolle Gedichte in Mundart. Und da war plötzlich eine Geschichte, wohl auch stimmungsvoll, aber sicherlich nicht schlicht. Vor allem aber war sie in Hochdeutsch und etwas beschämt stellte ich fest, dass ich diese Seite Stelzhamers überhaupt nicht gekannt hatte. Und das war eine große Überraschung.

Die Überraschung wurde aber noch größer, als ich entdeckte, wie umfangreich in Stelzhamers Gesamtwerk der Anteil der Texte in Hochsprache ist: Seine Novellensammlungen, seine Essays, seine autobiographischen Schriften usw. füllen bereits mehrere tausend Seiten. Und
ich fragte mich, warum es davon nichts im Buchhandel gab; ich fragte mich, ob diese Geschichten denn so veraltet, so langweilig — so schlecht wären.
Ich würde mir nie anmaßen, mit meiner Meinung einen Maßstab für literarische Wertigkeit setzen zu wollen; aber ich bin der Ansicht, dass seine Novellen (zumindest die meisten der von mir gelesenen) nicht schlecht und nicht langweilig sind, auch wenn mich Stelzhamers Manie für Fremdwörter manchmal ungeduldig werden lässt; dass sie nicht veraltet sind, denn der Dichter schreibt über Themen, die schon seit jeher die stoffliche Basis für Kunstwerke gebildet haben: Liebe, Hass, Leidenschaft, Glück, Unglück usw. Man kann es auf den gemeinsamen Nenner »Höhenflüge und Abgründe der menschlichen Seele« bringen.
Warum also verehrt man den Mundartdichter, aber nicht den Dichter der Hochsprache? Vielleicht liegt die Erklärung für diesen Missstand — ich will es einmal so nennen — in der Tatsache, dass Stelzhamer selbst schon Probleme hatte, als hochdeutscher Dichter anerkannt zu werden, dass er phasenweise selbst äußerst verunsichert war, wie einige Textbeispiele beweisen. So etwa auch die den Sebastian-Geschichten vorangestellte Widmung:

»... Euer Nichtgeboren! waren von jeher ein ganz anderer Mann als meine jüngern Freunde und Verehrer, welche ein Theil in ihrer Frömmigkeit und Sanftmuth glauben: ich könne außer meinen obderennsischen Liedern Nichts schreiben; der andere aber aus Klugheit und Vorsicht meint, und mir inständig anräth und einschärft:ich sollte jadoch — den allwöchentlichen Waschzettel etwa ausgenommen — nichts Hochdeutsches schreiben, um mein erlangtes Nämchen nicht zu erschüttern und ihr dünnes, mir spendiertes Stimmchen nicht unnöthiger Weise zu zwiespalten. — Klug gerathen und wohlgemeint!

Aber liebe Freunde, warum riethet ihr denn nicht, gleichviel der Wiese oder dem Paradiese, als Gott die unermessene Fülle der Dichtkunst — ihren Frühling über sie ausgoß und hinströmte, daß sie entweder lauter Lotos und lauter Rosen, oder lauter Krauthäupter und Runkelrüben ansetzten und ausschossen?! ...«

Dazu kommt noch, dass Stelzhamer als Mundartdichter zweifellos etwas Besonderes war, ein begehrter Gast in den besseren Kreisen der Wiener und Münchener Gesellschaft etwa. Als Prosaautor war er nur einer unter vielen. Der Hauch des Originellen, des Andersartigen fiel weg und die Konkurrenz war groß.

»Dnetta daß's nöt maints, i wa —
Af ainmal iezt an Andana«,

schreibt der Dichter im. letzten Teil seines 1852 im Selbstverlag erschienenen Werkes »Das bunte Buch«, und was darauf folgt, sind Gedichte in Mundart, nach cirka 290 Seiten hochdeutscher Lyrik, Aphorismen und Essays. Auch dieser Spruch ist ein Beispiel für Stelzhamers Verunsicherung, die ihn glauben ließ, seinen Lesern immer wieder Konzessionen machen zu müssen.

Dieses »bunte Buch« ist, weit davon entfernt, ein gutes Buch zu sein, in mancher Hinsicht zumindest ein interessantes, aufschlussreiches Buch und trägt seinen Titel zu Recht, präsentiert es doch dem Leser nicht nur den Ästheten Stelzhamer mit Spruchweisheiten, die jedem Zitat-Kalender zur Ehre gereichten, sondern auch den Rassisten, der sich damals wie heute dem begründeten Vorwurf des Antisemitismus aussetzte; es zeigt einen Menschen, der Zeit seines Lebens darum kämpfte, als Gebildeter anerkannt zu werden, der seine Kenntnisse in der Theologie, der Literaturgeschichte, der Mythologie aufzuzeigen und auszuspielen versuchte, indem er z. B. seine Essays mit Metaphern und Fremdwörtern geradezu spickte; einen Mann, dem es sicherlich nicht genügte, nur der Franz von Piesenham zu sein, und der vielleicht auch deshalb Hochsprachiges schrieb, um den Wurzeln seiner engeren Heimat (zumindest teilweise) entfliehen zu können. Ein wenig erinnert es an die vielen jungen Musiker der Gegenwart, die englische Texte singen, um ein größeres Publikum anzusprechen, um ja nicht lokal eingeschränkt zu werden; was jedoch in den meisten Fällen zum Scheitern führt.
Ist auch Franz Stelzhamer gescheitert?
Betrachtet man die Literaturgeschichte in den Schulbüchern, muss man diese Frage wohl mit ja beantworten; denn darin wird, wenn überhaupt, nur der Mundartdichter Stelzhamer besprochen. (Wie gern ließe ich mich eines Besseren belehren!) Aber sollte man den hochsprachigen Dichter gänzlich vergessen? — Ich sage nein!
Wie ich bereits erwähnte, hieß die erste von mir gelesene Geschichte Stelzhamers »Der wunderbare Blick«. Und sie gefiel mir. Ja, sie gefiel so gut, dass ich mir schon während der Lektüre Gedanken darüber machte, mit wem ich sie fürs Radio aufnehmen könnte. Natürlich dachte ich zuerst an einen Schauspieler vom Linzer Landestheater, an einen Oberösterreicher. Doch dann hielt ich es für eine gute Idee, einen Nicht-Oberösterreicher, der Stelzhamer möglicherweise nur dem Namen nach kannte, damit zu betrauen.
Meine Wahl fiel schließlich auf Kammerschauspieler Walther Reyer, der mir von einigen Fernsehaufzeichnungen klassischer Stücke her bekannt und der früher des Öfteren im Landesstudio zu Gast gewesen war. Telefonisch wurde der Kontakt hergestellt und ich schickte dem Bühnenstar u. a. auch Stelzhamers »Wunderbaren Blick«.
Zwei drei Wochen später meldete Reyer sich bei uns und erklärte sich einverstanden, die ihm zugesandten Texte zu lesen. Weitere zwei Wochen später war Aufnahmetermin und ich etwas nervös; denn ich fragte mich nun, was ich eigentlich damit beweisen wollte, Stelzhamer von einem berühmten Theater- und Filmschauspieler lesen zu lassen. — Vorerst fand sich keine plausible Antwort.
Reyer begann zu lesen:

»Himmel, das war ein Blick ——————!!«
Und wie er las! Energisch, leidenschaftlich — voller Pathos:

»Und als der wunderbare Blick getan war, in welchem Liese die ganze unermessliche Größe seines Unrechtes,und ihre innige, über alles siegende Liebe, die sogar in den Tod zu gehen sich nicht gescheut hatte, ausdrückte, mit dem sonnigen Nebenstrahl aller seligen Erinnerungen und dem Dämmerlichte der getäuschten ringenden Hoffnungen nachfolgender höchster Glückseligkeit bei Erscheinen ihres Liebespfandes!« ...

Mit einem Mal tat sich bei Stelzhamer eine ganz neue Dimension auf. An meinen Armen bildete sich — was mir nie zuvor bei einer Aufnahme passiert war — eine Gänsehaut.

» - als dieser recht wunderbare Blick getan und in seinem ganze Umfange und in seiner ganzen Gewalt und Schwere von Jakobs Herzen empfanden war — welche überraschende, rührende Scene!« ...

War das denn noch Stelzhamer, der Dichter aus Piesenham im Innviertel?! — Ein Blick in das Gesicht des neben mir sitzenden Tontechnikers verriet mir, dass ich mit meinem Staunen nicht allein war.
Ja, Walther Reyer, der gebürtige Tiroler, demonstrierte uns auf eindrucksvolle Weise, dass ein guter Text nicht nur aus sorgfältig gewählten Worten besteht.

»Weg waren, wie von Gottes Wink weggeblitzt, die Dämonen aus ihren Herzen, ein jäher unhemmbarer Tränenstrom brach in demselben Augenblick aus beider Augen.« ...

Es war hinreißend.
Nachdem »Der wunderbare Blick« im Programm Ö1 gesendet worden war, gab es eine Reihe von Anrufen interessierter Hörer. Stelzhamer hatte also gefallen. Und ich hatte meine Antwort, meinen Beweis, dass der Dichter aus Piesenham nicht nur ein Dichter für die Oberösterreicher ist.
Ich habe danach noch viele Texte Stelzhamers mit verschiedenen Schauspielern und Schauspielerinnen vom Burgtheater sowie vom Linzer und Salzburger Landestheater aufgenommen — darunter auch so bekannte Namen wie Gerlinde Locker, Gert Westphal und Heinz Ehrenfreund — und sie alle waren sich einig: Stelzhamers Literatur ist eine Herausforderung, nicht immer leicht zu lesen, aber ungemein farbig und facettenreich; genau das also, was talentierte und professionelle Mitglieder dieser Zunft lieben. Dazu kommt noch, dass sich einige dieser Geschichten lesen, als hätte Stelzhamer beim Schreiben schon eine Verfilmung im Sinn gehabt.
Ein Ding der Unmöglichkeit natürlich — und doch: Nimmt man z. B. den Anfang der Erzählung »Marie«, so lässt sich dieser ohne Mühe und mit ein bisschen Phantasie mit einer Kameraeinstellung vergleichen, die Intimität vermitteln soll, nämlich mit einer gezoomten Nahaufnahme.

»Seht, das hat ein heilloser Mensch angerichtet!
Blickt nur hinein durch die Guckkastenlöcher der kleinen Fenster!«

Weiters bediente sich der Dichter der auch in Film und Fernsehen sowie im Hörspiel beliebten Technik der Rückblende — ein immer wieder wirkungsvolles Mittel, Dynamik zu erzeugen. Berücksichtigt man all das, so taucht abermals eine Frage auf: Warum wurde noch keine dieser Stelzhamer-Geschichten vom Film oder Fernsehen adaptiert? Denn das wäre sicherlich ein Weg, den großen Dichter einem breiteren Lesepublikum zuzuführen.

Ob es tatsächlich jemals dazu kommen wird? — Wir wollen es hoffen.
Inzwischen könnte man zumindest den Aphoristiker Stelzhamer unter das Volk bringen, besser noch: unter die Völker; denn, wie ich schon mehrmals feststellen konnte, finden u. a. sogar Chinesen und Japaner Gefallen an seinen Gedanken und Sprüchen:

»Die Welt ist, wie dein Auge,
und dein Auge, wie dein Herz.«

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