Arbeiten über Adalbert Stifter von Otto Jungmair |
Zum Leben und Werk von Professor h. c. Otto Jungmair
Der Eingang erscheint riesig. Ich strecke meine Arme,
öffne das mächtige Tor, trete in die Dunkelheit dem
gegenüber liegenden offenen Tor entgegen und gelange
in den Innenhof des Hauses Rudolfstraße 32. Sorgsam
setze ich meine Schritte auf die Pflastersteine. Meine kleinen
Füße in weißen Strümpfen und zu kleinen Schuhen
versuchen, nicht in die Ritzen neben diesen unebenen Pflastersteinen
zu treten, nicht abzurutschen. Meine Hand hält
fest die Hand der Mutter, gespannt, aufgeregt, in freudiger
Erwartung: Wir besuchen den Großvater.
Der Innenhof gibt den Blick frei auf ein kleines, einstöckiges
Biedermeier-Häuschen, ich erkenne es wieder, auch
die”Kapelle” mit dem hohen Turm, eine maßstabgetreue
Nachbildung des Linzer Doms, die ein junger Bursch aus
dem Haus im Hof gebaut hat. Über die enge Wendeltreppe
gelangen wir in den ersten Stock. Links eine Türe,
sie führt in das meist ungeheizte Arbeitszimmer des Großvaters
- für uns Kinder tabu -, geradeaus die Türe zur Küche,
von dort werden wir durch das Schlafzimmer in das
Wohnzimmer geführt, allerdings nur an Festtagen, meist
bleiben wir in der Küche.
Die Tante kocht„gesunden” Tee, den wir eher nachsichtig
annehmen die Tante ist eben so , die Erwachsenen sprechen,
ich suche die Nähe, die so gute weiche Hand des Großvaters ...
Der Großvater hat wieder„gedichtet” was heißt eigentlich
„gedichtet” für ein Kind? Er hat etwas gemacht, was die
Erwachsenen bestaunen, was man nur aufgeschrieben sieht,
was man hören kann.
Und er liest vor -„Der Gankerl”:
Lustig ist es, wenn der Großvater liest, manchmal
aber schweigen nachher auch alle. Ein Kind fühlt dann den
stillen Ernst, auch wenn es den Inhalt nicht verstehen kann.
Warum verlangt die Tante immer, daß der Großvater Gedichte
lesen soll? Lieber würde ich auf den Knien des
Großvaters sitzen, in seiner Geborgenheit meine
Geschichten erzählen, ...
In kurzen Augenblicken durchfliegen diese Gedanken
mein Gehirn; die Erinnerung an Besuche beim Großvater
empfinde ich als so frisch, als so gegenwärtig, als würden
nicht mehr als fünfzig Jahre zwischen meinen Kindheitsbesuchen
und dem Jetzt liegen, da ich vor dem großen Tor
stehe. Es ist geschlossen, eine Notiz verweist auf den
Eingang des Klosters in der Kapellenstraße 8. Ich suche
die angegebene Adresse, werde an der Klosterpforte herzlich
empfangen, an eine Schwester verwiesen, die mir
bereitwillig Auskunft gibt. Sie erinnert sich nicht an Otto
Jungmair, doch hat sie die Umbauten im Klosterareal
betreut. Dort wo einst das Biedermeierhäuschen stand es
war baufällig, es ist vor Jahren schon abgerissen worden
schmücken nun Blumen den Klostergarten. Später erhalte
ich mit der Post einige Fotos von den Bauarbeiten, vom
Abriss: unbedeutend, meine Kindheitserinnerungen sind
stärker.
Innerhalb der Generationen sind es wohl oft die Großeltern,
die einen besonderen Bezug zu ihren Enkelkindern
haben. Sicher hatten viele Kinder und Jugendliche meiner
Generation ich bin im Jahre 1942 geboren, mein Vater
fiel 1943 in Russland ihre Großväter als Ersatzväter gewählt.
Ich hatte zu meinem Großvater Otto Jungmair eine - wie ich
meine - ganz besondere Beziehung: als Kind gab
er mir Wärme und umsorgende Liebe, als Jugendliche war
er es, dem ich meine Sorgen, meine Ängste anvertrauen
konnte. Ihm konnte ich von meiner ersten Liebe erzählen:
er konnte zuhören, er verstand. Wenn er antwortete, dann
war es auf jener gedanklichen”Schiene” auf der ich mich
gerade befand. Diese Nähe im Gespräch, das Gefühl des
Verstandenwerdens empfand ich immer als ein ganz
besonderes Geschenk.
Daß der Großvater ein„Dichter”, ein„Schreiber” war, konnte
ich weder als Kind noch als Jugendliche so recht einordnen,
Gedichte erschienen mir wie Schränkchen eines
Tischlers, selbstverständliche Ergebnisse einer handwerklichen
Tätigkeit, liebevoll gezimmert. Die unendliche Fülle an
Wissen, die Otto Jungmairs wissenschaftliche Veröffentlichungen
auszeichnen, die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit
mit der er recherchiert hatte, die tiefe Weisheit, die in
den Gedichten zum Ausdruck kommt, und nicht zuletzt die
Bescheidenheit, die Otto Jungmair seinem Schöpfer gegenüber
fühlt, sind mir in ihrer Bedeutung erst sehr spät zugewachsen
und bewußt geworden.
Vielleicht muß einem„den Kinderglauben erst ein hartes
Lebensschicksal rauben” - wie Otto Jungmair es in einem
seiner Gedichte formuliert -, bis es gelingt, die Welt hinter
den Dingen zu erkennen. In vielen Gedichten, Tagebuch-
Eintragungen, Bemerkungen aus seiner Werkstatt hat
mir der Großvater Bilder und Gleichnisse mitgegeben,
durch die ich mir die verborgenen Gesetze mit dem Gnadenblick
des Künstlers immer wieder neu ahnend veranschaulichen
darf. Sie haben mir in vielen schweren Tagen
Trost gespendet, sind mir Ratgeber bis heute.
Bin ich dem Vermächtnis, das mir der Großvater auferlegt
hatte, die Erinnerung an ihn wach zu halten, seinen Enkelkindern
und deren Kindern von ihm zu erzählen, gerecht
geworden? Diese Frage werden die Nachkommen einst
selbst beantworten. Dem Werk Otto Jungmairs gerecht zu
werden, ist eine nahezu unmögliche Aufgabe. Sein Werk
lebendig zu erhalten, bemühen sich viele Menschen in
Linz und in seinem Geburtsort Molln im Steyrertal, allen
voran OSR Hans Krenmeyer und Dipl. Ing. Adolf Staufer.
Besonderer Dank gilt Frau Dr. Elisabeth Schiffkorn, die
mit dem vorliegenden Band„Ausgewählte Gedichte” eine
Initiative gesetzt hat, die - so hoffe ich es - vielen
Menschen das Werk Otto Jungmairs wieder näher bringen,
ihnen einen ruhigen Blick nach innen und Freude vermitteln
möge.
Professor Dr. Ulrike E. Jungmair
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